Kontemplativ leben?

Was könnte das heißen?  Bedeutet es, den ganzen Tag auf Knien zu liegen? Oder wie verstehen Benediktinerinnen ihr Leben als kontemplativ?

Der Hl. Benedikt schreibt seine Lebensordnung für Menschen, die eine Sehnsucht haben, ihr Leben jeden Tag neu auf Gott auszurichten. Deswegen könnte man kontemplatives Leben nach der Regel des Hl. Benedikt so umschreiben: es ist eine Einübung, Gott in den Dingen des Alltag zu erkennen. Und weil das eigene Herz sich ständig ablenken lässt, andere Dinge immer wieder verlockender findet oder lieber um sich selbst kreisen möchte, ist das kontemplative Leben nach dem Hl. Benedikt ein unermüdliches Einfangen des eigenen herumschweifenden Herzens, um es zum gütigen Hirten, Lehrer und Arzt der Seele zurück zu führen.

Benedikt bietet uns verschiedene Werkzeuge an, um die Sehnsucht nach Gott zu stillen. Hier beschreibe ich nur einige dieser Werkzeuge. Zum einen gibt er eine regelmäßige Tagesstruktur an, wo alles, was wichtig im Leben ist, seinen Platz hat, eine Tagesstruktur, die mitten in einem gesunden Arbeitsrhythmus immer wieder an die Perspektive Gottes erinnert. Zweitens lehrt er hinzuhören, den Worten der Bibel zu lauschen und die Botschaft dieser Worte ganz konkret im Alltag umzusetzen. Und drittens führt ihn sein Blick auf Christus dazu, im Bruder und in der Schwester Christus zu erkennen.  Im Laufe seines Lebens wurde für den Hl. Benedikt die Wichtigkeit aufrichtiger und herzlicher Beziehungen immer deutlicher. Das Studium seiner Regel zeigt, dass er im Laufe seines Lebens immer wieder neu den Text der Regel revidiert oder erweitert. Das zweite Kapitel über den Abt (Kap. 64) hat einen viel wärmeren Ton als das erste (Kap. 2), und die Worte, die großes Verständnis und Einfühlungsvermögen mit den Schwächen der Mitmenschen bezeugen (Kap. 72), sind offenbar sein Testament und das Ergebnis eines langen Lebens.

 

Benedikts Tagesstruktur:

Das Auffallende an Benedikts Tagesstruktur ist die Abwechslung von Arbeit, Lesung und gemeinsamem Beten der Psalmen in einem jährlichen Rhythmus, der sich an Ostern orientiert – das sogenannte Offizium. Wir alle wissen, wie einen die Arbeit auch im Kloster (wir bleiben auch im Kloster begrenzte Menschen) absorbieren kann: manchmal wollen wir etwas besonders gut machen oder wir machen uns Sorgen über Schwierigkeiten, die sich unerwartet auftun, oder, oder… - und dabei wird alles andere hintangesetzt. Die Unterbrechung dieser inneren Vorgänge durch einen Ruf zum Gebet erinnert uns daran, dass unter den Augen Gottes diese Dinge meistens eine neue Perspektive bekommen. Wir hören in den Psalmen, wie Menschen früherer Generationen Gott in ihren Schwierigkeiten angerufen haben. Hier und da finden wir uns in den Worten der Hl. Schrift wieder, oder wir fühlen uns herausgefordert, eine eigene Klage an Gott zu richten – oder gar einen tiefen Dank oder eine Bitte an ihn zu richten. Und fast unbemerkt hat so der lautstarke Alltag durch die Unterbrechung und das Ausbreiten der eigenen Situation vor Gott etwas von Seinem Licht und seinem Geheimnis eingefangen.

Die Botschaft der Bibel in den Alltag umsetzen:

Ein aufmerksamer Leser der Regel des Hl. Benedikt entdeckt, dass dort viele Zitate der Bibel zu finden sind, die kurz und alltagstauglich sind. Hier einige Beispiele: „Alles sei allen gemeinsam“ (Apg. 4,32), „Jedem wurde zugeteilt, wie er es nötig hatte“ (Apg. 4,35), „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt. 25,40), „Sie sollen sich in gegenseitiger Achtung übertreffen!“ (Röm. 12,10). In der Tradition der Mönche war das Wort aus dem Jakobusbrief: „Seid aber Täter des Wortes und nicht allein Hörer, die sich selber betrügen“ (1,22) sehr wichtig. Sie haben entdeckt, dass die praktische Anwendung eines Wortes, das man verstanden hat und das ins Herz gefallen ist, die innere Sensibilität für das Wahre, das Stimmige, das Eigentliche schärft. Jedes Mal wenn wir versuchen, dem Wort Gottes zu gehorchen und unser Leben danach auszurichten, wächst unsere Fähigkeit zu unterscheiden, wo Gottes Spuren im Alltag erkennbar sind. Diese Wachsamkeit für Gottes Spuren ist eine zutiefst kontemplative Sicht. Wo wir dies gemeinsam einzuüben versuchen, erfahren wir gegenseitige Stärkung.

Christus im Gegenüber erkennen:

Benedikt empfiehlt dem Gottsucher ausdrücklich ein Leben in Gemeinschaft. Er ist davon überzeugt, dass die Begegnungen des Alltags Türen zur Begegnung mit Gott sind. Sein Ausgangspunkt ist nicht eine Vorstellung von vielen tiefen, freundschaftlichen Beziehungen – auch wenn Gott solche Beziehungen manchmal schenkt. Er ist realistischer und zugleich kontemplativer. Er sieht im Gegenüber die Gestalt Christi, der im Gegenüber geliebt und dem gedient werden soll, ob Mitbruder oder Mitschwester, ob krank oder zu Gast oder Leitungsperson, ob mit charakterlichen Schwächen belastet oder lästig oder unaufmerksam. Gemeint ist das, was John Henry Newman in den Worten kurz zusammenfasst: „cor ad coram loquitur“ (das Herz spricht zum Herzen). Ich muss lernen, aus aufrichtigem Herzen das Herz des anderen wahrzunehmen. Dieser Blick kann mir nur durch viel Gebet und das Betrachten der Heiligen Schrift zuwachsen. Indem ich mich selbst als von Gott geliebt erfahre, und indem ich entdecke, dass Gottes Geist auch zu mir spricht, gewinne ich die Kraft, aus der Wahrhaftigkeit meines Herzens die anderen auch durch die Augen Gottes zu sehen. Ich muss eingestehen, dass Christus auch für die Schwester, für den Bruder gestorben und auferstanden ist.

Und weil wir unsere Unzulänglichkeiten, Schwächen und Empfindlichkeiten voreinander nicht verstecken können, fallen langsam unsere Masken, so dass wir entdecken, wie sehr wir auf die aufrichtige Liebe unserer Mitschwestern und Mitbrüder angewiesen sind. Das Zu-Einander-Halten auf dem gemeinsamen Weg ist ein wunderbarer Ausdruck dieser aufrichtigen Liebe, wo Vergebung und Treue in guten und in schlechten Tagen zum tragenden Fundament wird. „Ubi caritas, ibi Deus est.“  „Wo die Liebe ist, dort ist Gott.“ Auf diese Weise schenken wir uns gegenseitig eine kontemplative Gotteserfahrung, die eucharistische Züge trägt.

In Gemeinschaft kontemplativ zu leben bedeutet, mit den Füßen fest auf der Erde zu stehen und gleichzeitig immer wieder die unermesslichen Freuden des Himmels zu erahnen.

Sr. Monika OSB


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